Begegnung mit Georg Klein   

GEORG KLEIN.
Ein deutscher Schriftsteller.
Unser Zeitgenosse.

Ein starker Virus war dafür verantwortlich, dass Georg Klein vor einem Jahr und neun Monaten nicht, wie er mir damals mailte, in den Zug klettern konnte und die geplante Veranstaltung, eine Lesung aus seiner Detektivgeschichte Barbar Rosa, platzen lassen musste. Vielleicht klappe es ein anderes Mal, hieß es damals. Vor gut einem Jahr ist nun ein neues Buch erschienen, seit einigen Tagen liegt es sogar schon in einer Taschenbuchausgabe vor und so wird heute Von den Deutschen die Rede sein. 

Auch die Geschichte meiner Bekanntschaft mit dem Autor Georg Klein ist die Geschichte einer Verspätung. Obwohl mir der neue Alexander Fest Verlag Ende der neunziger Jahre schon bald aufgefallen war, habe ich Georg Kleins erfolgreichen Roman Libidissi und seinen Erzählband Anrufung des blinden Fisches zunächst nicht beachtet. Bei den Lesungen an den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt im Frühsommer 2000 gehörte der Bachmannpreisträger nicht zu meinen Favoriten, genauso wenig wie Ulrike Draesner übrigens, die vor kurzem das zehnte Jahresprogramm des Literarischen Treffpunkts eröffnet hat. Der damals von mir bevorzugte Text war, so erinnere ich mich, ‚Diagnosestunde'. Sein Autor Andreas Maier las einige Monate später im Literarischen Treffpunkt aus Wäldchestag, ein anderer Klagenfurter Mitbewerber, David Wagner las hier im Goethe-Institut aus Meine nachtblaue Hose, einem Buch aus dem Alexander Fest Verlag. Und dann gab es im Klagenfurt-Jahr 2000 am Bildschirm auch noch die Begegnungen mit Birgit Kempker und Julia Franck, die beide schon in den Jahren davor in Brüssel gelesen hatten. So bin ich auf Georg Klein erst nach dem Erscheinen von Barbar Rosa im Frühjahr 2001 aufmerksam geworden. Es ist schon ein faszinierendes Thema, wie Bücher und Leser zusammenkommen. 

Wie aber Autoren und Verlage zusammenkommen, ist zumindest im Fall von Georg Klein noch viel spannender. Die erste Veröffentlichung des 1953 in Augsburg geborenen Autors, der Germanistik, Geschichte und Soziologie studiert hatte und damals offenbar in Berlin als Sprachlehrer im Bereich Deutsch für Ausländer tätig war, ist 1984 in der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter erschienen. Es handelt sich um eine von fünf preisgekrönten von insgesamt 132 Stadtteilbeschreibungen aus dem Jahr 1983 in einem Wettbewerb des Literarischen Colloquiums Berlin für junge Autoren. Kleins Text heißt "Milbengeometrie". Die Figuren Omega, ein Taxifahrer, und Alpha, ein junger Philosophiestudent, zwei Männer im Alter von dreißig beziehungsweise zwanzig Jahren, befinden sich als eine Art Doppelgängerpaar im Kreuzberger Kiez auf einem Fadenkreuz "im Netz der großen Spinne", wie die Stadt Berlin in den sieben Textteilen immer wieder einmal bezeichnet wird. Dreizehn Jahre später ist Georg Klein, zusammen mit unter anderem Judith Hermann und Inka Parei, der diesjährigen Bachmannpreisgewinnerin, wiederum einer der Teilnehmer der vom LCB unter der Mentorenschaft von Katja Lange-Müller und Burkhard Spinnen zum zweiten Mal organisierten Autorenwerkstatt Prosa. Das damit verbundene Stipendium ermöglicht die Fertigstellung des Manuskripts des Romans Libidissi, einer Agentengeschichte, die im Herbst 1998 erscheint. Eine gekürzte frühere Fassung des im sogenannten NAKED TRUTH CLUB angesiedelten Kapitels "Hochmut" wurde in der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter vorabgedruckt. Georg Klein lebt nach den dortigen Angaben inzwischen in Berlin und Ostfriesland, schreibt erzählende Prosa und zusammen mit Mike Jordan auch Comics. Zwei Jahre später (inzwischen ist als zweites Buch der Erzählungsband Anrufung des blinden Fisches erschienen) erscheint auf der Website des Bachmannpreises die Nachricht, dass auch in diversen Zeitungen und Zeitschriften und im Rundfunk seit 1984 schon zahlreiche Erzählungen veröffentlicht wurden. Dies wurde aber erst ab Sommer 2000 durch den Bachmannpreis ermöglicht. Fünfzehn Jahre lang hat dieser Autor für die Schublade schreiben müssen! 

"Verzögerndes Erzählen" 

Da heute Abend Erzählungen im Mittelpunkt stehen, möchte ich mich in dieser Einführung ferner auf einige Bemerkungen zum neuesten Erzählband beschränken. Wie der erste Erzählband enthält Von den Deutschen genau ein Dutzend Erzählungen, die in drei Vierergruppen dem Leser präsentiert werden, hier unter den Titeln "Riesen", "Recken" und "Wichte", allesamt Bezeichnungen für Männer aus dem Märchen- und Sagenbereich. Diese Titel sollen aber gleich relativiert werden, denn nie zuvor hat es in der Männerwelt Georg Kleins so viele Frauenfiguren gegeben. Darauf weist schon der erste Satz der ersten Erzählung, "Chicago/Baracken" unmissverständlich hin: "Mich hat die Kunst meiner Frau nach Chicago gebracht, und ihr Wagemut zog mich unter die schwarzen Balken der Baracken." Der Ich-Erzähler warnt gleich beim Eintritt dem Leser, falls dieser ebenfalls geneigt sei, "seinen kostbaren Kopf durch denselben Türstock ins Finstere [zu] stecken", so liege das in seinem eigenen Ermessen. Verallgemeinernd lässt sich also auch sagen: das Betreten dieses Erzählbandes geschieht auf eigene Gefahr. In der genannten Erzählung gerät man auch deshalb schnell in die Niederungen, weil vom Aussichtsdeck auf der hellen Seeseite kein solider Horizont erkennbar ist. Landeinwärts dagegen sind die Baracken zu erkennen, "ein kleiner, aber deutlicher schwarzer Fleck hinter den Geleisen". Dort unten lauern drei hünenhafte ‚Neger'. Wie am Anfang von Barbar Rosa wird nun ein Überfall geschildert, das Jäckchen, das auch hier motivisch auftaucht, ist diesmal braun. Kurz darauf kommt es zur Begegnung mit einem riesig wirkenden alten Auslandsdeutschen. Dieser Arno ist Inhaber eines Eisen- und Haushaltswarengeschäfts mit Nazi-Devotionalien und arbeitet als Amateurphilologe seit einem halben Jahrhundert an einer neuen amerikanischen Übersetzung von Hitlers Mein Kampf, im Kampf gegen den Faschismus, versteht sich. Im Vergleich zu ihm erscheint der Erzähler im Laufe der Erzählung wahrhaft als Wicht. Die Ehefrau hingegen, eine Perkussionistin, benutzt als deutsche Kulturschaffende im Ausland stets und so auch hier die Gelegenheit, "die deutsche Sprache zum Erklingen zu bringen". In einer Art Traum-Phantasie nimmt der Erzähler als Frucht der Begegnung dieser jungen deutschen Avantgardistin mit einem alten amerikanischen Auslandsdeutschen am Ende gar "ein Liedchen aus der Heimat" wahr, "etwas Kleines". 

Als "verzögerndes Erzählen" möchte ich von hieraus Kleins Sprachkunst charakterisieren. Wie er am Ende des Romans Libidissi das deutsche Wort "Heil" für die deutsche Sprache zurückzugewinnen versucht, geschieht dies im Schlussabsatz der Erzählung mit dem Substantiv "Reich" oder am Ende der Erzählung "Old Erfurt" amerikanisch verfremdet "It's an old German song. It's called ERZGEBIRGLERS HEIMATLIED!" In einer Rezension in der Süddeutschen Zeitung ( 9.10.02) hat die deutsche Kritikerin Ijoma Mangold diesen Umgang mit "Heimat in schwieriger Zeit" (so der Titel ihrer Rezension, ein Zitat übrigens des Titels einer CD in der Erzählung "Der gute Ray", die zur Weihnachtszeit vor dem Hintergrund von Georg Kleins Heimatstadt Augsburg spielt, von der ich nach der Lektüre jetzt auch weiß, dass sie nicht einfach in Bayern, sondern in Bayrisch-Schwaben liegt) als "die Schubert-Seite" der Deutschen bezeichnet, einen behutsamen Versuch, die vorherrschende "Heine-Linie", Deutschland als Wintermärchen, zu ergänzen. Auch der Titel des Romans Barbar Rosa kann meines Erachtens in diesem ambivalenten Sinne gedeutet werden. 

In einem Essay auf seiner Homepage "All unsere unerkannten U-Boote! Versuch über das Bescheidwissen" erläutert Georg Klein am Beispiel der Entstehungsgeschichte der Erzählung "Old Erfurt" ausführlich sein Erzählverfahren als einen Balanceakt zwischen Wissen und Erfinden, Unerkanntes Boot sei deshalb als Abkürzung für U-Boot nicht ganz falsch, ja poetisch richtig. Ähnlich schreibt auch Katrin de Vries, Ehefrau, erste Leserin und Schriftstellerkollegin Georg Kleins auf der gemeinsamen Homepage in einem Beitrag über "Das deutsche Fühlen", über das komplexe Verhältnis von Wissen und Fühlen, über die atmosphärische Vermittlung von Erfahrung aus dem gegenwärtigen wie aus dem vergangenen Deutschland. In einem Interview mit einem ungenannten jüngeren Kollegen, dem Wortmenschen N.N., unterscheidet der Sprachmensch Georg Klein zwischen dem Vergangenen und der Historie bzw. den modernen Medien, welche die Kunde vom Vergangenen zu einem unüberschaubaren Wust vermittelter Restinformation organisieren. Ein anderer Umgang mit dem Vergangenen bietet die Literatur, deren einziges Ziel der Weg ist: "Wer jedoch eine geglückte Gegenwartserzählung eine Viertelstunde oder eine halbe Stunde lang auf ihrem Erzählweg begleitet, hat deutsche Zeitgenossenschaft geatmet. ‚Konspirieren Sie mit meinen Texten!' das wäre mein Zuruf. ‚Beatmen Sie meine Worte!' Denn wenn ihre Sprachluft meinen Text nicht bläht und rundet, bleibt er flach und tot, eine Wüstenei toter Zeichen ..." 

Daniel de Vin, Einführung zur Lesung vom 26.11.2003 im Goethe-Institut Brüssel

Besondere Empfehlung: die Homepage von Katrin de Vries und Georg Klein  http://home.t-online.de/home/katrindevries.georgklein/